Kap 2 – Die Einigung des Vielen

Das Eins ist deshalb eine metaphysische Kategorie, weil die Einheit sowohl unser Ich als unser Naturbild mit nie unterbrochener Geltung durchdringt. In nie verhüllter Deutlichkeit erscheint in jedem Menschen das Einheitsbewußtsein, das ihn von sich nie anders reden läßt als von einem Ich, und ebenso allgewaltig offenbart sich das Eins in der Natur dadurch, daß sie die Zählbarkeit an sich hat, die beseitigt wäre, wenn wir den Gedanken Einheit strichen, da die Zählung Einheiten aneinanderreiht. |
Ebenso deutlich wie diese Beobachtung ist die andere, die beständig zugleich mit ihr eintritt, daß uns sowohl die Natur als unser eigenes Bewußtsein die unendliche Vielheit zeigen, die von uns dieselbe vollständige Bejahung verlangt, die wir der Einheit geben. Wir kennen die Einheit nur so, daß sie die Vielheit an sich hat, die Vielheit nur so, daß sie die Einheit besitzt.

Der Erkenntniswert der metaphysischen Begriffe scheint dadurch gefährdet zu sein. Wird nicht damit unser Bewußtsein von einem Widerspruch zerrissen, der uns zu einer Wahl zwingt, so daß wir entweder das Dasein der Einheit oder ihre Abwesenheit, die dem Seienden Unendlichkeit gibt, entweder die Begrenztheit oder die Grenzenlosigkeit als das für uns und die Natur wesentliche Merkmal bejahen? Wenn wir aber deutliche Aussagen unsres Bewußtseins entwerten müssen, dann gibt uns die Bejahung des Wahrgenommenen nicht mehr das Wissen, und das metaphysische Ziel, das mit den stetig vorhandenen Aussagen unsres Bewußtseins die Merkmale alles Seins zu erfassen sucht, stürzt um.

In der Richtung der alten Metaphysik, die das uns gegebene Bewußtsein nicht nur auffassen, sondern erklären wollte, lag der Gedanke, die gleichzeitige Geltung der beiden Kategorien, die sich wechselseitig begrenzen, lasse sich dadurch beseitigen, daß sie auf | die beiden Hälften unsres Bewußtseins verteilt werden; dem Ich gehöre die Einheit, der Natur die Unendlichkeit an. Werden die Einheiten, die uns die Natur zeigt, als Schein von ihr abgestreift, dann wird der Ursprung dieses Scheins in das Selbstbewußtsein gelegt und gesagt: I da der Schauende ein Eins sei, mache er auch aus dem Geschauten ein Eins, da er durch eine an seinem Lebensakt haftende Notwendigkeit auf das Geschaute sein eigenes Bild ühertrage. Dieser Gedanke gefährdet aber auch die Geltung der Einheit im Ich. da sich leicht aus ihm der Satz entwickeln wird, daß wir uns der Natur dadurch anzuschließen hätten, daß wir auch an uns selbst die Einheit verneinten,

Hießen wir aber die Einheit in der Natur Schein, so würde sich dadurch an unsrem Naturbild nichts verändern. Denn dieser angebliche Schein erweist sich als uns gesetzt. Wenn wir auf die Zahl vernichteten und die Mathematik als ein Gebilde unsrer Phantasie von der Natur schieden, so hörte die Natur nicht auf, uns mit der mathematischen Phantasie auszustatten, durch die wir den Raum, indem wir ihm die Unendlichkeit geben, zugleich in begrenzte Einheiten zerlegen, die meßbar und zählbar sind, und ebensowenig würde die Natur aufhören, unsre höchst unvollkommene Mathematik dennoch dadurch zu bestätigen, daß die Naturprozesse mit unsren Zählungen übereinstimmen. Wir setzten uns daher mit dem Verzicht auf die Zahl ein Ziel, das gänzlich unausführbar ist, weil wir unsre Natur nicht verlieren und unsre Wissenschaft von der Natur und ihre technische Verwendung nicht vernichten können.

Machten wir nur unser eigenes Bewußtsein zum Grunde der Einheiten, die uns die Natur zeigt, so zerstörten wir gerade diejenige Aussage unsres Bewußtseins, die uns zu diesem Urteil bewog, nämlich die uns gezeigte Unendlichkeit der Natur. Denn diese verwehrt uns den Gedanken, sie sei unser Produkt. Neben der Unendlichkeit der Natur kennen wir unser eigenes Lebensmaß als klein, müßten aber dieses stetige Merkmal unsres Bewußtseins vernichten, wenn wir die uns wahrnehmbare Unendlichkeit von Einheiten als unser Erzeugnis uns selbst zueigneten. Gerade dadurch, daß die Einheit, die wir sehen, an einer Unendlichkeit besteht und die Unendlichkeit, die wir sehen, die Einheit an sich hat, fordert uns unser Bewußtsein | auf,. das Bild der Natur als uns gesetzt zu empfangen und es deshalb zu bejahen, weil es uns gesetzt ist.

Dem Einheitsbewußtsein, das unsre nach innen gewendete Wahrnehmung durchdringt, geben die Gefühle besondere Deutlichkeit, die mit ihm verwoben sind. Damit ist aber dem Urteil, daß die Einheiten der Natur durch eine Ausstrahlung aus unsrem Ichbewußtsein entstehen, keine Begründung verschafft. Einmal sind die Empfindungen nie für sich allein der Inhalt unsres Erlebnisses. sondern treten nur vereint mit demjenigen Vorgang auf, den wir Bewußtsein und Wahrnehmung nennen, weshalb der, der das Bewußtsein streicht. nichr mehr von Empfindungen reden kann. da er solche nicht ohne das Bewußtsein, sondern nur innerhalb desselben hat. Sodann begleiten die Empfindungen nicht nur die Prozesse, die inwendig in uns entstehen, sondern entspringen auch aus unsren Beziehungen zur Natur. Wenn die Empfindungen, die das Ichbewußtsein begleiten, uns mit besonderer Stärke bewegen, so | ergreifen uns auch die Gefühle. die mit dem Naturbild verwoben sind, mit unwiderstehlicher Bewegungsmacht. wenn auch ihre Färbung von den Gefühlen, die das Ich als Einheit kennzeichnen, verschieden ist. Die Gefühlsvorgänge lassen sich deshalb nicht als Zeichen dafür benützen, daß unser Ich die unser Naturbild hervorbringende Ursache sei.

Nur dann wäre eine entgegengesetzte Beurteilung der beiden Kategorien Einheit und Vielheit in unsrem Bewußtsein gegründet, wenn sie uns getrennt vorgehalten würden; sie werden uns aber immer in unlöslicher Verbundenheit gezeigt

In die Natur kommt die Unendlichkeit dadurch hinein. daß wir .sie als den Raum erfüllend sehen, weil wir uns den Raum immer als der Verkleinerung und der Vergrößerung fähig vorstellen. Wir verbinden deshalb mit jedem Ding den Gedanken an eine doppelte Unendlichkeit, an eine Unendlichkeit von unendlich Kleinem. da sich jeder Raum wieder zerlegen läßt. und an eine Unendlichkeit von unendlich Großem, da sich jeder Raum noch erweitern läßt. Zugleich mit der Unendlichkeit gibt aber die Räumlichkeit der Natur auch die Einheit, die wir jedem ihrer Teile dadurch zuschreiben, daß wir ihn einen Teil heißen. weil wir ihn begrenzt sehen, und der Gesamtheit der Dinge und Prozesse dadurch zuerkennen, daß wir sie eine Gesamtheit heißen, die wir in den einen Raum stellen, an dem wir überall dieselben Eigenschaften I sehen. Dadurch, daß wir die Dinge nebeneinander wahrnehmen, bringen wir sie zueinander in eine Beziehung, die sie als Einheit umfaßt.

Die Unendlichkeit entsteht aber nicht einzig durch den Raum, sondern sowohl an uns als an der Natur auch dadurch, daß wir das Geschehen als die Erfüllung einer Zeit erleben, die wir ebensowenig in Grenzen einzufassen vermögen als den Raum. | Indem die Prozesse nacheinander geschehen, werden sie zu einer Reihe, die sich ohne Grenzen über unser Bewußtsein hinaus erstreckt, und zugleich sind sie durch das Nacheinander zueinander in eine Beziehung gebracht, die die Einheit in die Unendlichkeit hineinsetzt. Von dem nach innen gewendeten Bewußtsein wird uns dies dadurch mit unmittelbarer Deutlichkeit gezeigt, daß die unendliche Reihe der inneren Vorgänge von der Identität des Ichs umfaßt ist.

Die Unendlichkeit des Geschehens geht aber noch über das hinaus, was mit dem Neben- und Nacheinander gegeben ist, weil wir an jedem Seienden, auch wenn wir es uns als Atom vorstellen, und an jedem Geschehenden, auch wenn es nur als Augenblick eintritt, eine inwendige Fülle wahmehmen, die ihm eine unerschöpfliche kausale Kraft verleiht. Aber auch so ist die inwendige Fülle des Seienden immer von der Einheit umfaßt.

In der unendlichen Reihe der Vorgänge, die wir in uns selber finden, zeigt jedes Glied nicht eine der Bestimmtheit entbehrende Grenzenlosigkeit, sondern ist vollständig gestaltet und dadurch der Einheit untertan. Was uns unser nach innen gewendetes Bewußtsein zeigt, ist daher die Vollendung der Einheit, nicht ihre Aufhebung oder Bestreitung, da uns hier die Unerschöpflichkeit eines Vermögens sichtbar wird, das eine unbegrenzte Zahl von Bildungen hervorbringt, von denen jede zu einer Einheit gemacht und alle als vom Ich hervorgebracht zur Einheit | verbunden sind. Die Unendlichkeit der Zeit bezeugt uns also die Unerschöpflichkeit der Kraft, die in unsrem inneren Lebensakt wirksam ist, und beweist, indem sie die Zahl zur Unzählbarkeit erhebt, nicht die Abwesenheit, sondern das Dasein der Zahl.

Warum soll es sich mit der Unendlichkeit des Raums anders verhalten als mit der der Zeit? Machen wir aus der Raumerfüllung die Eigenschaft einer trägen Masse, die ohne Grenzen gedehnt sei, ohne daß eine Kausalität ihre Dehnung bewirke, dann zerbricht allerdings die Analogie zwischen der Natur und unsrem inwendigen Leben. Aber wo leitet uns das uns vorgelegte Naturbild an, diese Vorstellung zu bilden, die die Griechen mit dem Namen Materie verbanden? Wir sehen überall, daß die Dehnung, die die Räume füllt, das natürliche Geschehen mitbestimmt, somit vom kausalen Vorgang nicht geschieden, sondern untrennbar mit ihm verbunden ist. Darin liegt das Zeichen, daß wir | den Kraftbegriff auf die Dehnung ebenso anzuwenden haben wie auf den inwendigen Lebensakt. Dann zeigt uns aber auch die Unendlichkeit des Raums die Unerschöpflichkeit der Kausalität, deren Produktionen eine für uns nicht begrenzbare und nicht zählbare Reihe bilden, während jedes Glied der Reihe begrenzt und meßbar ist. So ist aber auch die Unendlichkeit des Raums nicht im Streit mit der Einheit, sondern macht sie offenbar, weil die ganze unerschöpfliche und für uns unzählbare Reihe der Bildungen dieselben Merkmale der Räumlichkeit besitzt und dadurch unter der Herrschaft der Einheit steht.

Lehnten wir die Umfassung einer unerschöpflichen Fülle von der Einheit als unmöglich ab, so träfe dieses Urteil den Bestand unsres eigenen inwendigen Lebens ebenso vollständig wie den der körperlichen Natur. Denn es war ein richtiges Urteil, wenn der Skeptiker den Raum und die Zeit unter dieselbe Verneinung stellte und der Zeit dann, wenn er den Raum unsrer Phantasie zuteilte, dieselbe Stelle anwies, da sich das Rätsel, das uns die Unbegrenzbarkeit des Raums vorhält, bei der Zeitlichkeit wiederholt. Wer deshalb hier von einer Antinomie spricht, der er die Bejahung nicht gewähren könne, muß allem Seienden und Geschehenden, ob es in uns oder vor uns sei und geschehe, jene Bejahung versagen, die es als Wirklichkeit erfaßt.

Wenn wir also wegen der Unendlichkeit des Raums dem uns inwendig durchdringenden Einheitsbewußtsein die Zustimmung entzögen, so zerstörten wir durch die Weise, wie wir uns der Natur anzuschließen suchten und unser Selbstbewußtsein ihr gleichförmig machten, mit unserem Selbstbewußtsein auch unser natürliches Bewußtsein ganz.. |

Da die Einheiten, die in allen natürlichen Vorgängen erscheinen, und die Aussage unsres Selbstbewußtseins, die uns als Einheit kennzeichnet, einander bestätigen, so werden die Einheit und die Vielheit zu metaphysischen Kategorien, die wir als unsrem Lebensakt und dem Wirken der Dinge vorgeordnet bejahen. Dadurch ist uns auch die Kategorie „ganz“ gegeben. da die Einheit, die eine Vielheit erzeugt, ein Ganzes schafft und die Vielheit, die unter einer Einheit steht, das Viele zu Teilen macht. Die metaphysische Geltung der Einheit und Vielheit verleiht auch ihrer Folge, der Ganzheit und der Teilung, die metaphysische Realität.

Weil die Einheit an der Vielheit besteht, ordnet sich unser Weltbild in Großes und Kleines je nach dem Maß der von der Einheit ergriffenen Fülle. Auch dieser Unterschied zeigt sich nicht nur an dem, was räumlich besteht, sondern tritt analog auch an den Personen und ihren | Gedanken und Begehrungen hervor, die sich voneinander als größer und kleiner unterscheiden nach der verschieden begrenzten Fülle, die in ihnen geeinigt ist

Ob wir uns gegen die Aussage unsres Bewußtseins, das uns die Einheit an der Vielheit zeigt, auflehnen oder sie anerkennen, das ergibt eine Entscheidung, die die Bewegung unsres Denkens vollständig beherrscht. Wir haben daran, daß das jetzt gefällte Urteil unser ganzes Denken bestimmt, an einem Einzelfall die Allmacht der Kategorien Einheit und Ganzheit vor Augen, die I sich auch dann durchsetzt, wenn wir sie bestreiten. Denn wir gestalten. wenn wir sie ablehnen, nicht einen isolierbaren Punkt in unsrem Bewußtsein, nicht ein ungrenzbares Feld unsres Seins, sondern jeden Gedanken, der in uns entsteht, jede Begehrung, die sich in uns findet, unsren ganzen Lebensstand. Die unübersehbare Reihe von Wirkungen, die aus dieser Entscheidung erwachsen, macht uns die Fülle sichtbar, die unser Lebensakt umfaßt; die Bewegung dieser ganzen Fülle vom selben Vorgang aus hält uns die Einheit vor, die diese Fülle durchdringt. Daran, daß wir die Auflehnung gegen die Einheit zugunsten des unverbundenen Vielen oft genug als unser Erlebnis in uns vorfinden, nehmen | wir wahr, daß die Einheiten, die wir sehen, nicht nur durch die Zahl der von ihnen geeinigten Vielen eine unendliche Verschiedenheit zeigen, sondern daß auch die Weise, wie die vielen geeinigt [sind], Mannigfaltigkeit an sich hat und den Kategorien „ganz“ und „teilweise“, „vollständig“ und „unvollständig“ Eingang gewährt. Alles, was die räumliche Seinsweise hat, besitzt eine auflösbare Einheit, weil jeder Raum der Verkleinerung und der Vergrößerung fähig bleibt. Ebenso ist an den Vorgängen, die nicht Gedehntheit erzeugen, die Einheit der Verstärkung oder der Verminderung, der Befestigung oder der Auflösung~ fähig infolge der Unerschöpflichkeit des die Vorgänge erzeugenden Vermögens, das die unendlichen Reihen hervorbringt und darum die uns befindlichen Einheiten immer wieder der Veränderung unterwirft, die sie über das hinausführt, was wir jetzt schon sehen und jetzt schon sind.

Das macht das Seiende offen und geschlossen, durchdringbar und undurchdringlich nach dem Maß der in ihm vorhandenen Einheit. Die unauflösliche Einheit ergibt die Geschlossenheit, während die Auflösbarkeit der Einheit die Offenheit herstellt. Das Zusammensein der Einheit und der Vielheit bewirkt, daß sowohl die Geister als die Dinge gleichzeitig in der einen Beziehung offen und durchdringbar, in der anderen dagegen undurchdringlich und geschlossen sind. |

In unsrem inwendigen Leben tritt die Unfertigkeit unsrer Einheit dadurch hervor, daß der eine Akt den anderen hemmt, so daß in uns eine Entzweiung entsteht, die sich als Gefährdung und schließlich als Vernichtung unsres Lebens wirksam macht. Die Entzweiung läßt sich aber nur mit großer Anstrengung als das uns gesetzte Merkmal unsres Lebens bejahen, weil sie den kraftvollen Widerspruch der Normen gegen sich hat, die uns die Einigung des Vielen als das uns gesetzte Verhalten zeigen und sich dadurch als herrschende Mächte erweisen, daß die Auflehnung gegen sie | das Ende unsres Lebensakts bewirkt. Am Zwiespalt im Denken stirbt das Denken, am Zwiespalt im Wollen und Wirken zerfällt der Wille und das Werk, und soweit sie Wirkungen hervorbringen, verderben wir an ihnen, wie am Streit die Sozietät zerbricht, womit auch der Einzelne endet. Da das Verbot des Streits in seiner nicht zu überhörenden Deutlichkeit sowohl die Entzweiung unsrer Gedanken als den Hader zwischen unsren Begehrungen als Mißgeschick und Missetat kennzeichnet, haben die Theorien, die die Einheit der Vielheit opfern, nur eine geringe werbende Kraft (3)

Dagegen bringt die starke Bezeugung der Einheit in unsrem Bewußtsein zahlreiche Versuche hervor, uns durch die Beseitigung der Vielheit das Geheimnis zu ersparen, das mit der Verbindung der Teile zum Ganzen vor uns steht. Sind wir nicht erst dann dem Einheitsgedanken wirklich gehorsam, wenn wir ihn ausschließlich bejahen? Trägt nicht jede Zulassung einer Vielheit eine Absage an die Einheit in sich? Allein die Auflösung der Vielheit in Schein, damit die Einheit allein bestehe, beraubte uns der Einheit vollständig, da wir damit einen Streit gegen uns selbst begännen, der kein Ende finden könnte, keine Unterbrechung zuließe und keine Beschränkung ertrüge, sondern uns gegen alles, was wir sind, und gegen alles, was uns berührt, in einen unversöhnlichen Kampf hineintriebe. Denn die Vielheit der uns selbst bildenden Prozesse | ist uns enthüllt und die Vielheit der mit uns bildenden Prozesse ist uns enthüllt und die Vielheit der Vorgänge, aus denen die Natur besteht, ist uns sichtbar. Wer sie im Namen der Einheit wegdenkt, denkt notwendig beständig zwiespältig, zuerst so, wie sein Bewußtsein es verlangt, dann so, wie die Theorie, zu der er sich entschlossen hat, es fordert. Er kämpft daher einen endlosen Streit gegen sich selbst und versagt daher der Einheit eben jetzt, wo er sie verteidigen will, den Gehorsam. Das ist die Not in allen Monismen, die die Einheit durch die Streichung der zur Einheit verbundenen Vielheit zu bewirken suchen, daß sich unter ihrem edlen Namen der nie zu stillende Streit versteckt.

Wir gewinnen die Einheit nicht dadurch, daß wir uns mit einer willkürlichen Bewegung unsrer Phantasie eine andere Einheit vorstellen als die, die uns als das Merkmal unsres Lebensstands gesetzt ist. Dieser zeigt uns aber das Eins als die Einigung der Vielen, die Vielen als durch Einigung verbunden. Hießen wir die gleichzeitige Geltung der beiden Kategorien eine »Antinomie«, weil das Dasein des einen Gedankens den Geltungsbereich des anderen beschränkt, so lehnen wir uns gegen das uns Gezeigte auf, weil das, was als Wirklichkeit vor uns steht, uns nicht den Streit zwischen der Einheit und der Vielheit sichtbar macht, sondern uns die Einheit so vorhält, daß sie am Vielen ist, und uns das Viele so enthüllt, daß es geeinigt ist. Wir bewahren uns also nicht durch die Aufhebung oder Umbildung jener angeblichen | Antinomie, sondern nur durch die Bejahung der beiden miteinander verbundenen Wahrnehmungen die Einheitlichkeit des Lebens, weil wir das, was wir sind, unveränderlich bleiben, wenn wir das, was wir sind, bestreiten.

Mit dem Urteil, daß wir die Vielheit nicht anders als an der Einheit, die Einheit nicht anders als an der Vielheit sehen, daß also die Einigung des Vielen das Merkmal des richtigen Denk- und Willensaktes sei, während die Vereinerleiung des Vielen, die die Einheit als die Vernichtung des Vielen faßt, den abnormen Denk- und Willensakt ergebe, werfen wir einen großen Teil der Traditionen, die den Namen „Philosophie“ tragen, hinter uns. Denn die griechische Denkgeschichte hat von Anfang an mit heroischer Entschlossenheit in der Vereinfachung des Weltbilds auf einen einzigen Gedanken das Ziel des gelingenden Denkakts gesehen. |

Unser inwendiger Lebensakt verschafft uns die Füllung mit dem Vielen nicht so, daß er die vielen Vorgänge, die er erzeugt, in eine einzige Reihe nebeneinander stellte, sondern so, daß drei Reihen von Ereignissen gleichzeitig in uns ablaufen. weshalb wir uns drei Vermögen zuschreiben. die wir alle drei dem als eins von uns erfaßten Ich zuteilen. Wird die metaphysische Aufgabe als die Vereinerleiung des Vielen gefaßt, dann werden die verschiedenen Vermögen auf ein einziges reduziert entweder nach der platonischen Tradition mit der Formel, der Mensch sei Vernunft und alles, was neben dem Denken in ihm geschehe, sei als eine Abart des Denkens zu erklären, oder im Anschluß an moderne Stimmungen durch die Erhebung des Gefühls zur einheitlichen Betätigungsform des Ichs. wodurch das nach außen gewendete Bewußtsein | und die auf das Geschehen einwirkenden Prozesse als Umformungen des Gefühls gedeutet werden, oder durch die Konstruktion eines Willens, der von der Berührung mit dem Gefühl und dem Denken getrennt nichts als Begehrung sein soll, die an sich weder wisse. was sie begehrt, noch fühle, was sie sich als den Ertrag ihres Wirkens bereitet, sondern erst hernach diese Vorgänge irgendwie als Mittel zu ihrer Befriedigung erzeugt. So entstand die „reine“ Vernunft, die nichts als Vernunft sei, das „reine“ Gefühl, das mit keinem Gedanken und keiner Begehrung verbunden sei, sondern nur Glück sein soll, und der „ reine“ Wille, der keinen Gedanken und kein Gefühl bei sich habe. Alle drei Beschreibungen des Menschen bestreiten aber den uns gegebenen Lebensstand beharrlich und vollständig, weshalb es auch nicht zur Aufgabe der Metaphysik gehört, eine ~Kritik“ der reinen Vernunft oder reinen Glückseligkeit oder des reinen Willens zu liefern, da man Gespenster nicht kritisieren, sondern verscheuchen soll. Eine Beurteilung setzt voraus, daß ihr eine Wahrnehmung voranging, die ein uns Gegebenes erfaßt. Bei dem dagegen, was ohne Wahrnehmung von uns erfunden wird, läßt sich die Frage nach der Art und den Grenzen seiner Leistungen nicht aufstellen, Es zerfällt in nichts, sowie erkannt ist. daß die Vorstellung auf keiner Wahrnehmung beruht (4) |

Wenn uns die Vielheit unsrer Vermögen zum Anstoß wird, weil wir die Vereinerleiung des Vielen zum Ziel des Denkakts machen, dann lassen sich leicht »Beweise« schaffen, die für das von uns bevorzugte Vermögen die Einzigkeit erkämpfen. Nennen wir die Vernunft unser Wesen, so verfällt das Wirken leicht der BezweifIung, da es nirgends unmittelbar in die Wahrnehmung tritt. In der Natur sehen wir den kausalen Akt nie, sondern nur die zeitliche Folge der Vorgänge, und auch das nach innen blickende Bewußtsein zeigt uns nur dasjenige Wirken, durch das unser Bewußtsein verändert wird, während es uns unsren Willen nur durch Vermittlungen hindurch erkennbar macht. Alles, was unser Bewußtsein füllt, sind Formationen unsres Bewußtseins, also Vorstellungen oder Gefühle; darum erkennen wir unsren Willen nur durch die Vorstellungen und Gefühle, die durch ihn entstehen und uns über ihn unterrichten. Da wir somit nie etwas anderes als Gedanken denken, scheint uns damit der Grund zu dem Urteil gegeben zu sein, daß wir kein anderes Vermögen haben als das Denken.

Ebenso nachdrücklich läßt sich mit dem Wirken das Wissen bekämpfen. Da der ganze Inhalt unsres Bewußtseim unter die Kategoire Verursachung. gestellt ist; erkennen wir in jeder Vorstellung eine von uns hervorgebrachte Wirkung. Wie soll sie uns nun ein vor oder in uns Seiendes enthüllen, das vor unsrem eigenen Denkakt bestände? | Kann uns eine Wirkung etwas anderes enthüllen als das Vermögen ihrer Ursache und ein Bild uns etwas anderes zeigen als die Kraft seines Bildners? Da wir aber unzweifelhaft selbst die Urheber unsres Denkens sind, so gelangt der, der sich den Kausalitätsgedanken verdeutlicht, leicht zu dem Urteil, daß es kein Wissen gebe, das einen Gegenstand erfasse

Beide Beweisführungen kommen dadurch zustande. daß sie unser Ich durch einen Schnitt zerlegen und nur die vom Denker bevorzugte Hälfte festhalten. während das, was in unsrem Lebensakt mit ihr verbunden ist, deshalb entwertet wird. weil es etwas anderes ist. Wir sind freilich Bewußtsein; aber das, was wir wissen. ist, daß wir wirken; wir sind freilich Wirkende; aber das, was wir wirken, ist Bewußtsein. Die Beseitigung der einen Funktion zugunsten der anderen machen aus uns ein leeres Eins, in dem die Einerleiheit die Einigung ersetzen soll.

In den drei Reihen unsrer Erlebnisse kommt jeder Vorgang wieder durch die Einigung mehrerer Akte zustande. im Denkakt entsteht aus der Wahrnehmung das Urteil, im Willensakt aus der Begehrung der sie bestätigende Entschluß. Die | Metaphysik, die in der Vereinerleiung der Vorgänge ihre Aufgabe sieht, läßt auch hier nur einen einzigen Vorgang als den wirksamen zu und ordnet ihm den anderen so unter, daß er in ihm verschwindet. Das ergibt entweder die Verachtung des Sinnenbilds, das uns bloß das individualisierte Einzelne und nie das Ganze und Allgemeine zeige, oder die Verachtung des die Begriffe herstellenden Urteils, da die Bemühung, aus den von den Sinnen in uns geschaffenen Bildern durch die Hervorhebung ihrer Gleichheit und Verschiedenheit Einheiten herzustellen, das von der Natur uns gewährte Bild nur verderbe. Hier und dort wird dem in uns gesetzten Lebensakt eine als vollständiger geschätzte Einheit entgegengestellt, die uns von der an uns vorhandenen Vielheit befreien soll. Wird der Sinn als der täuschende Lügner gescholten, so wird der Begriff als das uns die Einheit Bereitende verherrlicht. Wird umgekehrt der Sinn als der Schöpfer des Wissens gepriesen und der Begriff gescholten, so wird von der alle gleichmäßig ergreifenden Gesetzmäßigkeit des natürlichen Prozesses die Einheitlichkeit des Denkens im Einzelnen und in allen erhofft, während die von uns selbst geleistete Bearbeitung des natürlichen Stoffs nur den Streit hervorrufen soll.

[…]
(3) Die in der Geschichte der Metaphysik hervortretenden Pluralismen haben alle ihre Stärke darin gesucht, daß sie eine energische Vereinerleiung am Seienden durchführten. Die vielen selbständig nebeneinander bestehenden Körperchen Demokrits haben nur eine einzige Eigenschaft, die Raumerfüllung, und sind nur durch die verschiedene Raumbegrenzung verschieden. Dies Herbart’sche Reale hatte nur eine einzige Qualität, und alles Geschehen bestand darin, daß alle Realen ihre eine Qualität im Wechsel der Beziehungen behaupteten.
(4) Eine Kritik der kantischen Lehre von der reinen Vernunft ist natürlich sehr wohl möglich. Damit wird aber nicht die „reine Vernunft“ kritisiert, sondern ein individualisierter, historisch bestimmter Denkakt nach seinen Gründen und Erträgen gemessen. Dasselbe gilt von den Beschreibungen, die die Eudämonisten von ihren Empfindungen oder Schopenhauer vom Urwillen geben.

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